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Alt 15.04.2008, 19:21   #1
Sique
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Radweg (Teil 1)

1 Die Grenze

16.40 Uhr fährt mein Zug vom Hauptbahnhof. 700 Forint habe ich einstecken, ein paar tschechische Kronen, dazu 96 D-Mark. Ein letztes Mal hatte ich in der Kirche gespielt. Schrottophon sagte ich immer, auch mit neunzehn immer noch verliebt in meinen kindischen Kalauer, den ich erfand, als ich das erste Mal Alt-Metallophon spielen sollte.

Der Bahnhof ist nicht mehr so voll wie am Donnerstag, als ich das letzte Mal hierwar. Damals kampierten Hunderte vor der Großen Anzeigetafel, bewacht von Schutz- und Transportpolizei. Heute sind nur die Gleise der Züge nach Süden bewacht. Ich zeige dem Polizisten meine Fahrkarte nach Budapest: gültig ab 8. Oktober 1989, inklusive Rückfahrt bis 7. Januar 1990. Ich habe nicht vor, die Rückfahrt zu benutzen.

Das Fahrradabteil befindet sich direkt hinter der Lok. Ich wuchte mein Rad in den Wagen. Dann esse ich ein Stück Traubenzucker aus der Tüte. Der Zug fährt an, fast pünktlich.

Ich überlege, wo ich aussteigen soll. Bad Schandau? Schöna? Ich beschließe, faul zu sein. Draußen wird es langsam dunkel. Der Zug steht einige Minuten in Schandau. Vielleicht doch hier? Nein, es geht weiter.

Drei Uniformierte kommen durch den Wagen.

- Schutzpolizei, wo ich herkäme?

- Aus Dresden. Nach Budapest unterwegs. Hier ist meine Reiseanlage(1). Gültig zur einmaligen Ausreise nach Ungarn über VR Polen, ČSSR, VR Ungarn, VR Rumänien.

- Die Ausreisebestimmungen für die ČSSR sind geändert, ob ich das wüsste?

- Ja, aber ich will ja nach Ungarn. ČSSR ist nur Transit.

- Mit dem Rad?

- Ja, weitgehend, aber Teilstrecken immer wieder mit dem Zug. Mit dieser Fahrkarte.

Der Zug hält in Schöna. Ich muss raus.

- Die Fähre nach Schmilka ist dort unten!

- Danke.

Ich überlege, was ich mit den D-Mark machen soll. Luftablassen und unter die Reifen schieben? Ich stecke die Scheine in meine Traubenzuckertüte. Das wird reichen.

- Volkspolizei Fahndung!

Direkt von der Fähre soll ich in ein kleines Büro.

- Ja, Siegemund ist mein Name.

- Ob ich wüsste, was in Dresden los ist?

- Die zwei Züge am Dienstag und Donnerstag meinen Sie?(2)

- War ich auch da am Hauptbahnhof?

- Ja, am Donnerstagnachmittag nach der Arbeit. Die Fenster über dem Nordeingang teilweise zerschlagen.

- Warum ich da gewesen sei?

- Ein Kollege hätte berichtet am Donnerstagmorgen. Kein Reinkommen, alles voller Menschen, und viel Polizei. Also wollten wir schauen, wie's aussieht.

- Ich war da auch im Einsatz. Alles Verrückte! Die haben uns angegriffen! Packen Sie mal Ihr Gepäck aus! Campingsachen?

- Ja ich will eine Radtour machen, nach Ungarn zur Weinlese.

Ich halte die Traubenzuckertüte in der Hand und nehme ein Stück. Frechheit siegt.

- Alles wieder einpacken! Sie haben Glück, dass Sie nicht mit dabei waren am Dienstag und Donnerstag.

Die kühle Abendluft trocknet den Schweiß auf Stirn und Rücken. 19.20 Uhr. Ein rundes Schild mit rotem Rand steht an der Straße: Zoll/Cló.

- Stellen Sie Ihr Rad ab und kommen Sie mit dem Gepäck hier rein! Was haben Sie mit? Alkohol? Devisen? Die Fahrradtaschen nehmen wir mit zum Röntgen. Leeren Sie Ihre Hosen- und Jackentaschen hier auf den Tisch! Zeigen Sie mal die Bonbontüte! Was ist das? Was wollen Sie mit Valuta?

- Ich war dieses Jahr schon mal in Ungarn. Ich hatte nicht mehr genug Forint(3).

- Und FORUM-Schecks(4)? Was will ich denn mit FORUM-Schecks?

- Die hab ich vergessen rauszunehmen.

- Raus zu Ihrem Fahrrad! Schrauben Sie mal den Sattel und den Lenker ab!

Der Zöllner leuchtet mit einer Taschenlampe in die Stahlrohre. Langsam zieht er ein Bindfadenknäuel aus der Sattelstütze. Vater, was sollte das? Jetzt fischt er zwei 100-D-Mark-Scheine aus dem Rohr.

- Von denen wusste ich nichts! Die muss mir mein Vater reingetan haben!

- Wir werden Ihre Eltern anrufen. Wie ist ihre Nummer?

- Meine Eltern haben kein Telefon. Hier hab ich zwei Nummern aus unserem Haus. Die zweite gehört aber einer alten Frau, die ist 85.

- Sie gehen da hinein und ziehen sich aus. Leibesvisitation.

Ich glaube nicht, dass der Zoll wirklich erwartet hat, in meinem Hintern was zu finden. Aber Vorschrift ist Vorschrift. Und Routine demonstriert der Zöllner mit knappen Anweisungen und schnellem Griff.

Jetzt sitze ich allein in dem kahlen Raum auf dem Stuhl, der mich so an ein Klassenzimmer erinnert. Es ist das letzte Mal, dass ich aus Überzeugung bete. Ich will hier raus.

Ich denke an Saskia. Vier Menschen wissen, was ich vorhabe: mein Vater, der alles organisiert hat, Hanno, der in Stuttgart auf mich wartet, Christoph, der nächste Woche fahren will, und Saskia, das 16jährige Mädchen, von dem ich nicht weiß, ob ich sie liebe, ob sie mich gern hat oder ob wir uns einfach treffen, weil sonst niemand da ist. Sie interessiert wohl nicht, was ich über Stanisaw Lem erzähle, über Fraktale und Lagrange-Punkte. Aber meine kleinen Geister, die ich ihr unter meine Briefe gezeichnet habe, mag sie. Dafür klebt sie mir Blumenbilder auf ihre Briefe.

- Alle, die ich kenne, gehen. Jetzt du auch, war ihre Reaktion, als ich ihr gesagt hatte, was ich vorhabe.

Ich werde ihr aber weiter schreiben. Ganz sicher.

Es ist 21.50 Uhr. Der Zöllner kommt herein.

- Ziehen Sie sich an, wir haben angerufen.

Niemand hatte angerufen, werden mir später meine Eltern sagen.

Als ich meine Sachen auf das Rad packe, frage ich den Zöllner: Wie haben wir gespielt?

- Warten Sie!

Er kommt zurück und händigt mir die Beschlagnahmequittung aus: 290,- DM in bar und 15,- DM in FORUM-Schecks. Nach Schwarzmarktkurs sind das drei Monatsgehälter meines Vaters. Die Reifen wären doch eine gute Idee gewesen. Vielleicht hätte der Zoll dann auch nicht die Sattelstütze inspiziert.

- 2:1 gegen die Sowjetunion(5).

- Die Chancen auf die WM wieder da?

- So sieht es aus.

Mit den Gedanken scheint er ganz woanders. Ich fahre nach Hrensko. Um 22.11 Uhr erreiche ich den tschechoslowakischen Zoll. 22.14 Uhr hört die DDR für mich auf zu existieren.

Zwölftausend Menschen sind vor dem Dresdner Hauptbahnhof. Die Gruppe der Zwanzig bildet sich. Ich weiß davon nichts.
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Alt 15.04.2008, 19:22   #2
Sique
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2 Transit
Der nächste Zug nach Prag fährt von Dĕčín-hlavní erst um fünf. 34 Kilometer bis Ustí, vielleicht habe ich da mehr Glück.

0.15 Uhr nach Prag! Wusste ich es doch. Wo ist die Gepäckannahme, damit ich das Rad aufgeben kann? Do Prahu!

Zwei Polizisten hören mich tschechisch radebrechen.

- Mitkommen!

Hoffentlich bin ich bis 0.15 Uhr zurück. Auf der Policejní Stanice fragen sie: Praha? Ambasáda?

- Nein, ich kann doch nach Ungarn! Was will ich da in der Prager Botschaft?

Sie lächeln wissend. Einer schüttelt hilflos den Kopf und zeigt mir einen Brief.

- Komando.

Ich versteh doch kein Tschechisch! Ja, ich weiß, dass in meinem Personalausweis zwei tschechoslowakische Einreisestempel sind und keine Ausreise. Ob ich ihnen auf Russisch klarmachen kann, dass ich im Sommer mit einer Gruppe über den Dukla-Pass geradelt bin? Dass wir zwar bei der Einreise jeder einen Stempel bekamen, aber bei der Ausreise nur die Gruppenliste abgestempelt wurde?

Die Polizisten telefonieren. Ich verstehe. Komando, Befehl ist Befehl.

- Ne ambasáda?

- Ne ambasáda, Ehrenwort!

Der nächste Zug geht um 2.15 Uhr. Aber die Nacht könnte kälter sein. Ich rolle meine Isomatte auf einer Bank am Bahnsteig aus und versuche zu schlafen.

Der Zug nach Prag ist einer jener TATRA-Triebzüge, die aussehen, als seien sie aus einem 50er-Jahre-Comic gefallen. Ich schlafe auf den alten Kunstlederbänken.

Ich gehe erst an den Gepäckschalter im Prager Hauptbahnhof, nachdem ich mich umgesehen und versichert habe, dass kein Uniformierter in der Nähe ist. Das Restaurace hat noch geschlossen. 5.30 Uhr könnte ich Frühstück essen. Ein Zug nach Bratislava fährt um 7.10 Uhr. Bis dahin sitze ich im Wartesaal und denke an Saskia. Vielleicht hätte ich ihr meinen Hut zum Abschied schenken sollen. Sie sieht sowieso viel hübscher damit aus als ich.

Im Abteil mit mir sitzen eine Frau und ihre beiden halbwüchsigen Kinder. Als die Schaffnerin kommt, finde ich meine Fahrkarte nicht mehr. Für meine letzten Kronen kaufe ich eine Nachlösekarte. Jetzt ist mir der Rückweg auch finanziell abgeschnitten. Die Frau schaut mich seltsam an. Sie ahnt sicher, was ich vorhabe.

Frank Neubert fährt gerade nach Leipzig, um beim Friedensgebet in der Nikolai-Kirche vom Treffen der Gruppe der Zwanzig mit Oberbürgermeister Berghofer zu berichten. Später wird er davon erzählen, dass an seinem Auto manipuliert worden war, sicher um einen Unfall zu provozieren, damit er in Leipzig nicht sagen kann, dass die Demonstration vom Vorabend vor dem Dresdner Hauptbahnhof friedlich verlaufen ist. Doch davon weiß ich nichts, genauso wenig davon, dass heute Abend die Montagsdemonstration die offizielle DDR in die Agonie stürzen wird.

Stattdessen radle ich von Bratislava über die Donau in Richtung Rajka. Zwei Kilometer vor der Grenze ist eine Straßensperre. Meine Reiseanlage wird akzeptiert. Die Grenze passiere ich unbehelligt. Eigentlich will ich nach Mosonmagyaróvár. Doch in Bezenye steht ein Wegweiser: Hegyeshalom - Nickelsdorf (A). Ich kaufe in einem Kiosk etwas zu trinken. Dann biege ich rechts ab.

Die Grenzanlage ist gewaltig, bestimmt acht Spuren. Ich mache ein Foto. Die ungarischen Grenzbeamten lachen, als sie mich sehen. Die Österreicher winken.
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Alt 15.04.2008, 19:24   #3
Sique
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3 Wien
Ein Hotel mit viel Leuchtreklame steht auf der linken Straßenseite. Ich lasse mir an der Rezeption das Telefon geben und rufe in Stuttgart an.

- Hanno? Du kannst meinem Vater Bescheid sagen. Ich werde zur Botschaft in Wien weiterfahren. Sie werden mir schon helfen.

- Ich soll nach den Maltesern Ausschau halten. Sicher haben sie hier irgendwo eine Auffangstation.

- Werd ich machen.

50 Schilling soll das Gespräch kosten.

- Was ist das in D-Mark?

- 7,15.

- Ich hab nur sechs. Und in Forint?

- 680.

Ich bezahle und fahre weiter. Meine Forint sind jetzt auch weg. Ein paar DDR-Münzen und sechs D-Mark sind mein Vermögen. Tatsächlich sehe ich einen Pfeil mit der Aufschrift Malteser nach rechts. Eine riesige Scheune aus Wellblech, davor jede Menge Autos mit DDR-Kennzeichen. Drin gibt es einen Strohfußboden und eine große Theke. Fünfzig Leute sitzen herum, essen, lachen, unterhalten sich. Ständig kommen mehr herein.

- Ob ich einen Benzingutschein brauche?

- Ich bin mit dem Rad.

- Wir warten auf den Bus, der letzte zur Botschaft ist grad abgefahren.

Ich hole mir von der Theke warmen Tee und schaue mich um.

- Sag mal, ich kenn dich. Du bist in der Holbein-Kaufhalle.

- Ja, ich war da Kassierer. Johannes heiße ich. Und woher kennst du mich?

- Ich bin gegenüber in die EOS(6) gegangen und war oft in der Frühstückspause bei euch.

Um 22.00 Uhr ist der Bus endlich da. Vierundsiebzig Leute werden einsteigen. Die anderen können mit dem eigenen Auto fahren. Mein Fahrrad verstaue ich im Gepäckraum. Auf geht es nach Wien. Ich versuche, irgendwas draußen zu erkennen, aber ich sehe nur Autobahnen. In der Botschaft ist niemand mehr da, wir sollen direkt ins Hotel gefahren werden. Im Hotelrestaurant setze ich mich mit einem Mittzwanziger und zwei Frauen im gleichen Alter an einen Tisch. Die eine Frau erzählt von ihrem Exfreund. So dick sei seiner gewesen! Ich sehe, dass der Mann neben mir zusammenzuckt. Ich finde ihre braunen Augen lustig.

Mit dem Mann teile ich mir ein Doppelzimmer. Es ist weit nach Mitternacht. Endlich richtig schlafen nach über 40 Stunden! Vielleicht hätten wir den Fernseher anschalten und Spätnachrichten schauen sollen. Aber wir wissen nichts von Leipzig.

Es ist gegen elf, als wir am nächsten Tag ins Foyer kommen. Der Hotelchef sitzt in einem Sessel.

- Wie wir jetzt zur Botschaft kommen?

- Um 9.00 Uhr war Abfahrt. Ich fahr jetzt nicht nochmal.

- Wussten wir nicht.

- Draußen ist die S-Bahn. Da sind Sie schnell in der Stadt.

Wir gehen die Straße entlang. Zwischen den beiden Fahrbahnen sind ein Graben und die S-Bahngleise. Für die Fahrkarten haben wir kein Geld. Nach der zweiten Station entscheiden wir uns, es mit Schwarzfahren zu probieren. Niemand kontrolliert uns.

In der Botschaft kopiert man unsere Personalausweise. Wir quittieren den Erhalt je einer Fahrkarte nach Münster und von 200 Schilling.

- Nein, eine Fahrradkarte müsste ich mir selbst kaufen. Dafür hätte ich ja die 200 Schilling.

- Wo?

- Am besten am Franz-Josefs-Bahnhof, wo auch unser Zug abfährt. Es sind Kurswagen dabei nach Münster, die seien für Übersiedler reserviert. Deutsche Botschaft steht dran. Wir sollen aufpassen, dass wir uns in die richtigen Wagen setzen.

Eine Fahrradkarte kostet 125 Schilling. Was fängt man mit 75 Schilling in Wien an?

- Kennst du Wien?

- Nein, und du?

- Auch nicht. Laufen wir eben einfach herum.

An einem Stand kaufe ich mir eine Tüte Äpfel. Das wird mein Essen für heute. Für einen Palatschinken reicht es noch.

Am Bahnhof finden wir unseren Zug. Die Kurswagen sind ganz am Ende. Vier Kurswagen nur für uns Übersiedler! Mein Zimmergenosse trifft Bekannte. Ich laufe weiter. Ein Abteil ist fast leer. Nur ein Mann sitzt drin. Ein Pärchen kommt zu uns. Zwei Frauen setzen sich auch noch hinein. Wir kommen ins Gespräch. Das Pärchen soll nach Gießen ins Aufnahmelager, weil die beiden aus Berlin sind. Gießen bearbeitet nur noch Übersiedlungen von Ost- nach Westberlin. Für die anderen ist Schöppingen zuständig.

- Ich bin auch aus Berlin, sagt die Frau neben mir. Aber ich hab gesagt, dass ich nicht unbedingt nach Westberlin will.

- Ich bin Andreas aus Radebeul, ich war in Südungarn bei einem Weingut. Ich arbeite bei Schloss Wackerbarth(7). Eine Dienstreise. Zum Schluss haben sie mir noch jede Menge mitgegeben.

Der Mann mir gegenüber holt aus einer Plastiktüte Kartons mit Traubenmost und Wein, dazu eine Flasche Weinbrand. Wir stoßen an auf unsere Reise.

- Ich hab sowieso nicht verstanden, warum sie mir die Reiseanlage gegeben haben, erzählt die Frau neben mir. Mein Vati war direkt vor mir dran und hat seine Ausreisepapiere für den Westen abgeholt. Unser Nachname ist so auffällig, das hätten die doch merken müssen.

- Ich bin Krankenschwester, sagt Kathrin ganz in der Ecke. Mal sehen, was ich im Westen mache. Krankenschwestern brauchen die sicher immer.

- Ich hab BmA(8) Baufacharbeiter gemacht. Sowas kennen die im Westen sicher gar nicht, sagt Daniela neben mir.
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Alt 15.04.2008, 19:25   #4
Sique
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4 Daniela
Das Pärchen ist aneinandergekuschelt eingeschlafen. Andreas gießt uns noch mehr Wein ein.

- Bis in die BRD müssen wir munter bleiben. Das will ich nicht verpassen!

Meine Haut fühlt sich taub an. Aber ich bin hellwach. Der Zug hält.

- Passau, sage ich, nachdem ich aus dem Fenster geschaut habe.

Es ist 3.00 Uhr morgens. Wir schieben das Fenster nach unten. Draußen läuft ein junger Mann herum. Er reicht heißen Kaffee zu uns hoch. Andreas ruft ihm zu: Trink mit! Stoßen wir an! Wir sind im Westen!

Der Mann lächelt und zuckt mit den Schultern. Schließlich nimmt er doch einen kleinen Schluck. Wir lachen und prosten ihm zu. Der Zug fährt weiter. Daniela wird müde und versucht sich in ihrem Sitz zurechtzurutschen.

- Kannst deinen Kopf auf meinen Schoß legen, das stört mich nicht.

Sie legt ihren Kopf auf meinen Schoß. Auch ich schlafe ein. Im Halbschlaf spüre ich etwas an meinen Fingern. Ich taste. Weich. Und dann knorpelig. Ich spiele gedankenverloren daran herum. Eine Hand greift nach der meinen. Ich streichle weiter Danielas Ohr. Sie richtet sich auf und gibt mir einen Kuss auf die Lippen. Dann schlafe ich wieder ein.

Als ich aufwache, ist es im Abteil leerer geworden. Das Pärchen ist in Frankfurt am Main umgestiegen nach Gießen. Wir anderen schieben die Sitze zusammen und legen uns hin. Daniela schmiegt sich halb unter mich. Ich küsse sie. Sie küsst mich. Ihre Zunge tastet über meine Zähne. Das also ist der Zungenkuss, denke ich. Ich lege meine Hand auf ihre Brust. Meine Füße spielen mit ihren. Ob sie merkt, dass ich sowas noch nie gemacht hab?

Wir kommen in Münster an. Mein Fahrrad ist noch unterwegs. Ich steige mit Daniela in den Bus. Kathrin und Andreas sitzen vor uns. Wir halten uns an den Händen. Das Aufnahmelager ist eine alte Kaserne. Der Leiter erzählt uns, was wir wo finden. Ein Schwarzes Brett gibt es auch, mit Arbeitsangeboten. Wir sollen vorsichtig sein. Da darf jeder was aufhängen.

Wir suchen uns in einem Mannschaftszimmer ein Bett. Es sind alles Doppelstockbetten, vier pro Raum. Für Familien gibt es Einzelzimmer. Ich weiß nicht, ob Daniela enttäuscht ist. Wir legen unser Gepäck ab. Dann erwarten uns wieder Tische, an denen uns eine Tüte mit Hygieneartikeln gereicht wird. Ich gehe mich duschen und meine Haare waschen. Das Haarwaschmittel scheint nicht allzu stark zu sein. Meine Haare quietschen nicht, nachdem ich es ausgespült habe. Ist Haarspülung nicht das gleiche wie Shampoo?

Einen Saal mit Kleiderspenden gibt es auch. Daniela wandert von Kleiderständer zu Kleiderständer. Sie schaut sich einen Strickpullover an. Ich schweige, weil ich ihn doof finde. Wir laufen über das Kasernengelände. In einem kleinen Zelt wird eine Andacht angeboten. Ich gehe hinein, Daniela folgt mir zögernd. Wir sind die einzigen. Nur ein junger Mann mit Gitarre sitzt da. Wir singen ein paar Lieder. Beim Gebet komme ich mir seltsam vor. Ich glaube, dass sich Daniela im Zelt fremd fühlt.

Wir finden das Mannschaftsheim. Die Holzwand hinter der Bar ist voll mit Zetteln, Dokumenten, Geldscheinen.

- Alles von Übersiedlern, sagt der Wirt.

Ich spendiere meine Reiseanlage und meine Quittung über 305 D-Mark. Ich glaube sowieso nicht, dass ich das Geld je wiedersehe. Daniela und ich sitzen aneinandergeschmiegt an der Bar.

Am nächsten Tag steht Bürokratie auf dem Plan. Meldezettel ausfüllen, Begründung, warum Ausreise. Wie sah die politische Verfolgung in der DDR aus? Ich schreibe über die Schule, die vergeblichen Anläufe für Spezialschulen, die Nichtmitgliedschaft in der FDJ. An einer Tür steht Otto-Bennecke-Stiftung. DDR-Bürger, die studieren wollen, können hier ein Stipendium beantragen. Ich verzichte. Ich denke, dass ich auch ohne das Geld auskommen werde. Aus dem Lautsprecher wird mein Name ausgerufen, ich solle zum Empfang kommen. Ursel aus Stuttgart ist am Telefon.

- Ich hab überall angerufen. In Wien in der Botschaft, in Gießen. Man hat mir gesagt, dass du hier bist.

- Ich hab hier noch zwei Stationen auf dem Laufzettel, dann kann ich nach Stuttgart fahren.

- Züge fahren aller zwei Stunden. Ich hol dich am Bahnhof ab. Welchen nimmst du?

Wir einigen uns auf 12.12 Uhr.

Ich gehe zu Daniela.

- Ich werd heute schon fahren, nicht erst morgen. In Stuttgart die erwarten mich.

Daniela sieht mich an und sagt nichts. Ich packe zusammen. Ich schreibe ihr die Adresse in Stuttgart auf. Andreas meint, dass man sich dringend mal treffen müsste, damit wir sehen, was aus uns geworden ist.

- Schreibt mir einfach, ich weiß ja schon, wohin ich als erstes gehe. Ich leite es dann weiter.

Daniela drückt mir die Hand zum Abschied.
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Alt 15.04.2008, 19:26   #5
Sique
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Sique befindet sich auf einem aufstrebenden Ast
5 Stuttgart
Ich stehe an der Landstraße und versuche, ein Auto anzuhalten. Es wird immer später. Ein junger Mann fragt mich.

- Nach Horstmar?

- Nach Münster.

- Nach Münster will hier lang selten einer. Ich nehm dich zur Bundestraße mit.

Dann fährt er doch bis an den Stadtrand von Münster. Dort lässt er mich raus. Der Zug um 12.12 Uhr ist längst weg. Ich suche am Straßenrand nach einem Stück Pappe oder etwas ähnlichem, woraus ich mir ein Schild machen kann. Ein roter Panda hält.

- Ja, ich fahr auch zum Hauptbahnhof. Ich kann dich mitnehmen.

Ich gehe noch zum Gepäckschalter. Dort bezahle ich die Weitersendung meines Fahrrades nach Stuttgart. Die Fahrkarte ist auch ziemlich teuer. Gut, dass ich Begrüßungsgeld bekommen habe. Auf dem Bahnsteig sehe ich die Frau wieder, die mich mitgenommen hat. Sie scheint mich nicht mehr zu erkennen. Als der Zug einfährt, nimmt sie einen Mann in den Arm, der herausgeklettert ist. Ich wende mich ab und steige ein.

Es ist spät am Abend, als ich in Stuttgart aussteige. Ursel wartet am Querbahnsteig.

- Ich hab mir schon gedacht, dass du den 12.12 nicht mehr kriegst. Hier, das haben sich die Kinder für dich ausgesucht.

Sie drückt mir einen kleinen Plüschesel in die Hand. Ich streichle ihn. Wir fahren durch Stuttgart.

- Hanno hat deinen Vater erreicht. Wie war die Fahrt? Ein Zimmer haben wir für dich freigeräumt.

Wir essen zusammen Abendbrot. Die Kinder sind auch noch wach. Ich trinke zum ersten Mal Apfelsaftschorle. Hanno will genau wissen, wie es war.

- Kein Maisfeldkriechen? Ich bin damals ja noch durch die Drau geschwommen. Und dann gelaufen. Richtung Maribor.

- Nein. Ab Rajka ging alles glatt. Und in Österreich war alles schon organisiert, mit Pendelbus und Hotel und Kurswagen.

Im Kopf formuliere ich einen Brief an Saskia. Dann lege ich mich schlafen.

- Wir müssen einen Ausweis für dich beantragen, und erstmal Sozialhilfe. Was hast du vor als nächstes? Studieren? Hoffentlich schickt dein Vater bald dein Zeugnis.

- Wir brauchen möglichst bald die Geburtsurkunde. Der DDR-Ausweis ist kein hinreichendes Dokument, sagt der Beamte im Amt für öffentliche Ordnung.

Wir gehen anschließend in die Bibliothek. Ich schau nach, was sie von Stanisaw Lem da haben. Transfer kenn ich noch nicht. Und ein Band mit Erzählungen.

Daniela hat mir geschrieben. Sie ist bei ihrer Tante. Bald wird sie in einem Reisebüro anfangen. Meine Kamera hat sie, die hab ich im Aufnahmelager vergessen. Und ein Brief von Saskia kommt. Mit aufgeklebten Blumen. Ich schreibe an Daniela über Stanisaw Lem. Einen Satz über vier Zeilen zitiere ich ihr. Sowas finde ich witzig. Vater hat mir mein Physikbuch geschickt und einen Brief, dass ich das Kapitel über Thermodynamik noch einmal lesen soll. Als ich das Buch aufschlage, liegen da Geburtsurkunde und Abiturzeugnis.

Ursel geht mit dem Zeugnis und mir zum Schulamt, zur Anerkennung.

- Das dauert drei Wochen.

- Aber er will sich immatrikulieren für das Wintersemester.

- Ich seh, was sich machen lässt. Ich weiß noch nicht, wie ich den Durchschnitt ausrechnen soll. Russisch? Das werd ich wohl weglassen müssen.

Mein neuer Personalausweis ist fertig, mit dem Datum 12. Oktober 1989. Ich packe meinen alten in einen Brief und schreibe dazu, dass ich übergesiedelt bin, und dass ich die DDR-Staatsbürgerschaft aufgebe. Auch ans Wehrkreiskommando Dresden-Nord schreibe ich, dass ich meinen Dienst am 1. November 1989 nicht antreten werde.

Die Uni Stuttgart kann keine Einschreibungen mehr für das Wintersemester machen. Ursel telefoniert herum. Die Uni Tübingen immatrikuliert noch nach dem 1. November. Auch mein Zeugnis ist anerkannt worden. Binnen drei Tagen. Ich hab einen Termin bei der Studienberatung.

- Mathematik mit Nebenfach Physik? Mathematik mit Nebenfach Informatik? Hm. Den Stundenplan für die Informatik hab ich hier. Ich schreib Ihnen das mal auf. Sie immatrikulieren sich also für Mathematik und Informatik?

Im Studentensekretariat ist vor mir eine Frau dran.

- Ich bin so eine Karteileiche. 52. Semester. Ja, 28 Urlaubssemester.

Daniela schreibt zurück, dass sie solche Sätze doof findet. Sie liest aber grad Beim nächsten Mann wird alles anders. Das sei lustig. Und für Weihnachten hätte sie eine günstige Gelegenheit aus ihrem Reisebüro, für 40 D-Mark nach Paris. Ob ich mitkäme? Kathrin will auch dabei sein. Die Kamera wird sie mitnehmen.

Ich sitze zum ersten Mal in einer Vorlesung. Ich schreibe mit. Danach renne ich runter, um den Professor zu sprechen. Aber der hat den Hörsaal schon verlassen. Vor der zweiten Vorlesung gehe ich runter zum Pult und versuche den nächsten Professor zu sprechen. Drei Wochen nachholen? Übungsgruppen? Er nickt kurz. Nach der Vorlesung ruft er mich zu sich.

- Ich hab noch ein Zimmer bei mir im Haus. Sie können da wohnen für ein Semester.

Er stellt mir einen Fernseher ins Zimmer und bohrt ein Loch durch die Wand für das Antennenkabel.

- Sie wollen doch sicher sehen, was bei Ihnen passiert.

Ich erfahre, dass mit Beschluss der Volkskammer vom 11. November eine Generalamnestie für alle Straftaten im Zusammenhang mit der illegalen Ausreise gilt. Jetzt bin ich offiziell nicht mehr fahnenflüchtig. Mein Gastgeber fragt mich, was ich davon halte. Ob nun die Wiedervereinigung folgt? Ich zweifle.

Ich fahre über das Wochenende zu Onkel Karl-Horst. Und zur Fee. Sie schenkt mir einen Stapel Handtücher und ein Uhrenradio.

- Das hab ich damals als Studentin auch gebraucht.

Am ersten Dezemberwochenende will ich nach Schifferstadt. Ich versuche, meinen Vater auf Arbeit zu erreichen. Stundenlang. Schließlich komme ich durch.

- Der Walter? Der wollte in den Westen fahren. Der hat für heute Urlaub genommen.

Mir kommt ein Verdacht. Dietrich holt mich ab. Er gibt sich unbefangen. Am Küchentisch sitzen meine Eltern.

- Ich hab geahnt, dass ihr da seid.

- Und wir wollten dich überraschen!

Meine Mutter umarmt mich mit Tränen in den Augen.

- Ich dachte, ich seh dich zehn Jahre nicht wieder.

- Und nun ist alles anders. Es waren keine zehn Wochen.

Vater erzählt von der Gruppe der Zwanzig, von der basisdemokratischen Fraktion.

- Ich bin jetzt Stadtverordneter. Dann bin ich noch in der paritätischen Arbeitsgruppe Recht in der DDR.

- Keinen Runden Tisch in Dresden?

- Nein, dafür haben wir die Arbeitsgruppen. In unserer ist ein alter Offizier. Der überholt uns rechts. Aber er weiß, wie Gesetze funktionieren. Wir wollen die alten Bundesländer wieder einrichten(9). Eigentlich sollte sie sozialistisches Recht heißen. Aber was, wenn die Leute keinen Sozialismus mehr wollen?

Ich fahre zurück nach Stuttgart. Briefe an Saskia und Daniela wären dran. Aber ich werde sie nie schreiben. Schade. Ich traue mich nicht einmal, mich zu entschuldigen, dass ich die Briefe so lange aufgeschoben habe.

Aber die Welt ist eine andere. Und ich werde lange brauchen, sie zu verstehen.
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Alt 15.04.2008, 19:28   #6
Sique
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Sique befindet sich auf einem aufstrebenden Ast
Fußnoten
(1) Das Gegenstück zu einem Visum. So wie ein Visum vom Zielland bestätigt, dass man einreisen darf, erlaubte die DDR mit der Reiseanlage ihren Bürgern die Ausreise.
(2) Diese Züge brachten die Ausreisewilligen von der Prager Botschaft in die Bundesrepublik.
(3) Der Umtausch von DDR-Mark in Forint war pro Person und Jahr beschränkt.
(4) In den Intershop-Läden, in denen Bundesbürger in der DDR für D-Mark einkaufen konnten, mussten DDR-Bürger mit FORUM-Schecks bezahlen. Die konnte man bei der Staatsbank der DDR für D-Mark einkaufen.
(5) Ironischerweise war das der letzte Sieg einer DDR-Fußballnationalmannschaft in einem Qualifikationsspiel. Mit der darauf folgenden 0:3-Niederlage gegen Österreich verpasste die DDR-Mannschaft die Qualifikation. Die anschließenden Qualifikationsspiele zur EM 1992 wurden nicht mehr gewertet.
(6) Erweiterte Oberschule
(7) Schloss Wackerbarth ist heute sächsisches Staatsweingut
(8) Berufsausbildung mit Abitur
(9) Die Bundesländer in der DDR wurden 1952 abgeschaff
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Alt 16.04.2008, 12:05   #7
Lelani
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Danke - lange ist es her das ich so einen Beitrag im Forum las.
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